Suchterkrankungen am Arbeitsplatz

München ist weltberühmt für seine Biergärten und das Oktoberfest – und es ist auch die Stadt, in der nilo.health gegründet wurde und in der unsere diesjährige Frühlings-Party stattfand: Yeah!

Natürlich haben wir auf der Party neben dem Essen auch eine Reihe alkoholischer Getränke angeboten – schließlich feiern wir Menschen schon seit Tausenden von Jahren besondere Anlässe auf diese Weise. Für unsere Kolleg:innen, die nicht trinken, gab es jede Menge köstliche alkoholfreie Alternativen, denn wir wollten unsere Feier so gestalten, dass sich alle im Team wohl und willkommen fühlen: Eine Person, die mit einer Suchtkrankheit zu kämpfen hat – oder schlichtweg keinen Alkohol konsumieren möchte – sollte sich dabei nicht übergangen fühlen. 

Während für viele Menschen eine Party ohne Alkohol erst gar keine richtige Party ist, kann für andere genau das Gegenteil der Fall sein: Alkohol ist alles andere als eine Party.  

Eine Suchterkrankung wird definiert als „anhaltender Konsum von Drogen, einschließlich Alkohol, trotz erheblicher Schäden und negativer Folgen“. Etwa 300 Millionen Menschen weltweit leiden an einer Alkoholkrankheit und Alkohol ist die Ursache für 5,3 % aller Todesfälle (bzw. 1 von 20). In Deutschland wird der Alkoholkonsum von etwa 10% der erwerbstätigen Bevölkerung als „problematisch“ eingestuft, während weitere 5% mit einer tatsächlichen Suchterkrankung zu kämpfen haben. Auf der Führungsebene leiden 10% unter dem Missbrauch von Alkohol.  

Suchterkrankungen gehören zu den am stärksten stigmatisierten psychischen Erkrankungen überhaupt, weshalb viele Menschen eine Behandlung gänzlich vermeiden oder lange hinauszögern. Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie haben zu einer Zunahme des Drogen- und Alkoholkonsums während der Arbeitszeit geführt – sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern – sowie zu einer allgemeinen Zunahme von Suchterkrankungen., 

Gegen den Strom schwimmen

Die schädlichen Auswirkungen von Alkoholmissbrauch gehen für Alkoholkranke  oft weit über die gesundheitlichen Folgen hinaus und hinterlassen eine Spur der Verwüstung im Leben von Freund:innen, Familie, Kolleg:innen und sogar völlig Fremden. Office-Events können daher eine Herausforderung für die mentale Gesundheit darstellen – nicht nur für diejenigen, die mit Suchterkrankungen zu kämpfen haben, sondern auch für diejenigen, deren Leben indirekt durch die Auswirkungen von Alkohol oder Drogen beeinträchtigt wird. Zwar ist jeder dafür verantwortlich, sich um seine eigene mentale Gesundheit zu kümmern, Grenzen zu setzen und zu entscheiden, welche Situationen er/sie vermeiden möchte, doch der Alkoholkonsum ist – insbesondere in vielen Teilen Europas – eng mit der Arbeitskultur verwoben. Auf Alkohol zu verzichten kann bedeuten, dass man Gelegenheiten verpasst, Kontakte zu knüpfen, oder dass man „steif“ oder „unnahbar“ wirkt. Wer will schon diese:r Kolleg:in sein?

Als Botschafter:innen für die mentale Gesundheit am Arbeitsplatz halten wir es für unsere Pflicht, das Bewusstsein für solche “heiklen” Themen zu schärfen und weiterführende Gespräche anzuregen. Wir möchten alle Führungskräfte daran erinnern, dass eine gesunde, inklusive Unternehmenskultur auch bedeuten kann, Rituale und Verhaltensweisen zu hinterfragen, die wir für selbstverständlich halten, wie z.B. gemeinsames Trinken als Form der Belohnung oder des Teambuildings.  

Sucht hat nichts mit Willensstärke zu tun

Vor achtzig Jahren wies Bill Wilson, der Gründer der Anonymen Alkoholiker, darauf hin, dass „Alkoholabhängigkeit eine Krankheit und kein moralisches Versagen ist“. Seitdem haben Zwillings-, Familien- und Adoptionsstudien ergeben, dass „die Genetik eine wichtige Rolle bei der Bestimmung der individuellen Vorlieben für Alkohol und der Wahrscheinlichkeit, eine Alkoholmissbrauchsstörungen zu entwickeln, spielt”. Dies gilt auch für andere Arten von Suchterkrankungen. Und während etwa die Hälfte der Anfälligkeit für Suchterkrankungen erblich bedingt ist, spielen auch Angst, Depressionen, die allgemeinen Lebensumstände und das direkte Umfeld eine wichtige Rolle – das Umfeld ist dabei ein Bereich, in dem Arbeitgeber einen wertvollen Einfluss ausüben können.

Neurowissenschaftler:innen zufolge lösen Alkohol und andere Suchtmittel eine hohe Dopaminausschüttung im Gehirn aus, die ein „intensiveres Verlangen nach Wiederholung des Verhaltens“ hervorruft.. Wenn der Konsum fortgesetzt wird, beginnt das Gehirn, weniger Dopamin auf natürliche Weise zu produzieren. Das Gehirn verlangt dann eine immer größere Menge der Substanz, um die Dopaminproduktion auf dem hohen Niveau zu halten, an das es sich gewöhnt hat, wobei die Konsument:innen gleichzeitig weniger Freude und Befriedigung aus dem Konsum ziehen.

Obwohl bewiesen ist, dass biologische Faktoren eine enorme Rolle bei Suchterkrankungen spielen, urteilen weiterhin viele Menschen über Personen, die ihren Alkohol- oder Drogenkonsum nicht kontrollieren können. Das Stigma ist tief verwurzelt, und für diejenigen, die mit ihrer Sucht kämpfen, können die Gefühle der Missbilligung in ihrem Umfeld in Verbindung mit ihren eigenen Gefühlen der Hilflosigkeit eine stille Spirale aus Schuld und Scham auslösen, die sie davon abhält, Hilfe zu suchen.

Eine Wechselwirkung: Suchterkrankungen und psychische Erkrankungen

Studien zeigen, dass Menschen, die regelmäßig und häufig Alkohol konsumieren, mit größerer Wahrscheinlichkeit psychische Probleme entwickeln. 

Auch das Gegenteil ist der Fall: Menschen mit schweren psychischen Problemen leiden häufiger an Suchterkrankungen. Diese Menschen „behandeln sich selbst“, indem sie trinken oder andere Substanzen einnehmen, um mit unangenehmen Gefühlen oder Symptomen fertig zu werden.

Unabhängig von den Umständen bedeutet übermäßiger Alkoholkonsum für die mentale Gesundheit nie etwas Gutes:

  • Alkohol ist ein Depressivum, d.h. auf das „Hoch“ folgt unweigerlich ein Tief.
  • Alkohol beeinträchtigt das Gedächtnis und das Urteilsvermögen und stört den Schlafrhythmus.
  • Regelmäßiger Alkoholkonsum kann das chemische Gleichgewicht im Gehirn stören, was dazu führen kann, dass negative Emotionen – wie Wut, Depression oder Angst – langfristig die Oberhand gewinnen. 

Lust auf Afterwork-Drinks?

In Anbetracht der Tatsache, dass sich auch bei Gelegenheitstrinker:innen eine Alkoholabhängigkeit einschleichen kann, sollten Sie, wenn Sie sich nach einem langen Arbeitstag normalerweise mit Alkohol entspannen, von nun an lieber eine gesündere Art der Entspannung für Körper und Geist wählen, wie z.B. Sport, Meditation oder kreative Aktivitäten.

Es ist ein klassisches Ritual, dass Erfolg mit einem Drink am Arbeitsplatz gefeiert wird. Den Geburtstag eines Teammitglieds mit einer Flasche Prosecco zu zelebrieren, ist eine weitere Tradition, über die man hier in Europa nicht weiter nachdenkt. Selbst wenn diese Traditionen von einigen Mitarbeitenden – oder sogar von der Mehrheit – geschätzt wird, sollten Sie sich darüber im Klaren sein, dass diese Form des Feierns Personen ausschließen kann, ohne dass Sie es merken: Nicht- oder auch Gelegenheitstrinker:innen fühlen sich vielleicht unter Druck gesetzt, mitzumachen und lieber nichts zu sagen. Und vergessen Sie nicht, dass Alkohol in einigen Religionen verboten ist. Würden Sie nicht auch lieber an einer Feier teilnehmen, bei der Sie wissen, dass alle mit Begeisterung und ohne Bedenken teilnehmen können? Alles, was sie tun müssen, ist in ein paar Flaschen leckeren alkoholfreien Schampus zu investieren. Oder es ist an der Zeit, kreativ zu werden…

Eine gute Gelegenheit, um festzustellen, ob eine Runde Drinks für alle im Team angebracht ist – und um neue Wege zu finden, Erfolge zu feiern – ist das Versenden einer anonymen Umfrage mit Optionen, die keinen Alkohol beinhalten. Fügen Sie ein Kommentarfeld hinzu, in dem die Teilnehmenden ihre eigenen Vorschläge machen können. 

Sie sollten auch bedenken, dass Personen, die Betriebsfeiern eher vermeiden, möglicherweise dem sogenannten „Proximity Bias“ ausgesetzt sind. Dieser besagt, dass Führungskräfte Personen, die sie häufiger sehen, ganz unbewusst bessere Chancen einräumen und davon ausgehen, dass sie allein aufgrund der vielen persönlichen Begegnungen bessere Mitarbeitende sind. Forscher:innen haben auch herausgefunden, dass Personen, die regelmäßig mit ihren Kolleg:innen trinken, im Durchschnitt 17% mehr verdienen als Arbeitnehmende, die auf alkoholische Getränke am Arbeitsplatz verzichten.

Wir haben beschlossen, mit einigen unserer Kolleg:innen zu sprechen, die keinen Alkohol konsumieren. Das hilft uns, ein besseres Gefühl dafür zu bekommen, wie es ist, bei der Arbeit nicht zu trinken. Das sagt unser Team dazu: 

Wenn du die Trinkkultur am Arbeitsplatz ändern könntest, was würdest du tun?

Caro: Team-Events finden in der Regel abends statt und selbst wenn vorher etwas anderes gemacht wurde, enden diese Events oft in Bars mit viel Alkohol – das schafft eine ganz andere Atmosphäre. Ich würde mich über “aktive” Aktivitäten freuen, wenn ich mich mit meinen Kolleg:innen treffe, wie gemeinsames Kochen, Bowling, Tanzen usw. Hat man ein Projekt erfolgreich abgeschlossen, hört man oft den Satz: „Lasst uns etwas trinken gehen, um zu feiern!” Aber warum müssen wir Team- oder Firmenerfolge immer mit Alkohol feiern? Warum kann es nicht ein leckeres Essen oder eine Wanderung in den Bergen sein?

Katharina: Ich habe das Gefühl, dass bei nilo bereits eine sehr respektvolle Unternehmenskultur herrscht, aber vielleicht könnten wir anfangen zu fragen: „Hey, trinkst du?“, bevor wir jemandem ein Bier anbieten. Es wäre schön, wenn wir uns bewusster über Themen wie diese Gedanken machen würden, vor allem, wenn neue Leute hinzukommen.

Mike: Ich finde es toll, dass es bei nilo völlig in Ordnung ist, wenn man nicht trinkt und niemand eine große Sache daraus macht. In anderen Unternehmen habe ich ein starkes Gefühl von Gruppenzwang erlebt, einschließlich der Tatsache, dass ich als „Spaßverderber“ wahrgenommen wurde und Leute andere sogar dazu drängten, etwas zu trinken. Das muss geändert werden, denn vielen Menschen fällt es schwer, Nein zu sagen, und das Trinken wird ihnen mehr oder weniger aufgezwungen.

Hast du dich ich schon einmal in einer unangenehmen Situation befunden, weil du nicht trinkst?

Caro: Ja, ich habe schon öfter zu hören bekommen, ich sei langweilig, weil ich nicht trinke. Ich denke aber, das hängt sehr von der jeweiligen Kultur bzw. dem sozialen Umfeld ab. Ich fühle mich auch manchmal unwohl, wenn Freund:innen davon ausgehen, dass ich die Fahrerin für alle bin, weil ich sowieso nicht trinke, und dann viel länger bleiben muss als ich es eigentlich will. 

Katharina: Ich habe mir vorgenommen 30 Tage lang keinen Alkohol zu trinken (vielleicht auch länger, da es mir im Moment recht leicht fällt). Noch habe ich keinerlei Probleme oder komische Kommentare deswegen bekommen. Ich genieße es wirklich, unter Menschen zu sein, mich zu unterhalten und zu lachen. Und wenn es doch mal zu „wild“ wird, kann ich jederzeit einfach gehen.

Wie fühlt es sich an, nicht zu trinken, wenn es alle anderen tun?

Caro: Ich möchte nicht trinken, also vermisse ich es auch nicht. Wenn ich mit Freund:innen unterwegs bin, die wissen, dass ich nicht trinke, ich keine unangenehmen Fragen gestellt bekomme, die Leute nicht zu betrunken sind und ich mich mit allen gut unterhalten kann, genieße ich es. Aber es gibt auch Momente, in denen ich es satt habe, immer wieder erklären zu müssen, warum ich nicht trinke. Ich verstehe nicht, warum die Leute annehmen, dass es normal ist, zu trinken. Manchmal kontere ich mit: „Und warum trinkst du?“ Dafür habe ich schon häufiger seltsame Blicke einkassiert.

Katharina: Es macht mir nichts aus, wenn alle um mich herum trinken. Ich würde das nicht tun, wenn ich die Folgen des Nichttrinkens nicht wirklich genießen würde.

Wenn Sie oder ein:e Kolleg:in ein Problem haben 

Einige der engagiertesten, erfolgreichsten und talentiertesten Mitarbeitenden haben mit Drogen- oder Alkoholmissbrauch zu kämpfen. Selbst wenn Ihr Unternehmen die mentale Gesundheit aktiv fördert, kann das Eingeständnis solcher Probleme eine enorme Hürde darstellen, wenn man an das bereits erwähnte Stigma von Suchterkrankungen denkt. 

Als Denkanstoß: Überlegen Sie, wie Sie reagieren würden, wenn Ihr Teamlead dem Unternehmen mitteilen würde, dass er:sie sich wegen seiner Sucht in Behandlung befindet. Sie könnten die Offenheit begrüßen, aber Sie könnten auch zu Recht um die Stabilität des Unternehmens besorgt sein und sogar seine:ihre Autorität und die bis dahin getroffenen Entscheidungen in Frage stellen. Stellen Sie sich nun vor, es handelt sich um eine:n Kolleg:in von Ihnen, der:die mit hochsensiblen Informationen umgeht oder anspruchsvolle technische Aufgaben ausführt. Können Sie sich vorstellen, wie das Wissen um den Drogen- oder Alkoholkonsum dieser Person – selbst wenn es sich um jemanden handelt, dessen Arbeit oder Persönlichkeit Sie schätzen und respektieren – die Grundlagen des beruflichen Vertrauens tief erschüttern kann?

Es ist daher völlig verständlich, dass Menschen, die an einer Suchterkrankung leiden, sich nicht unbedingt am Arbeitsplatz „outen“ wollen, auch wenn dies in manchen Fällen hilfreich sein kann – zum Beispiel, um zu vermeiden, dass ihnen die besagten After-Work-Drinks angeboten werden. 

Wenn Sie mit Drogenmissbrauch zu kämpfen haben oder ein Kolleg:in Ihnen anvertraut, dass er:sie ein Problem hat oder es sich eindeutig negativ auf die Arbeit auswirkt, ist es an der Zeit, sich professionelle Hilfe zu suchen und sich ins Gedächtnis zu rufen, dass – wie schon betont – eine Suchterkrankung nichts mit dem Versagen der Willenskraft zu tun hat. Für Führungskräfte kann dies eine Anregung sein, über alle Faktoren am Arbeitsplatz nachzudenken, die Alkoholmissbrauch unnötig fördern: So tragen z.B. Arbeitsstress und eine Arbeitszeit von mehr als 48 Stunden pro Woche zu ungesundem Alkoholkonsum bei. 

Ein psychologisch sicherer Arbeitsplatz kann Menschen unterstützen, die zu Suchterkrankungen neigen. Expert:innen empfehlen die folgenden Maßnahmen: 

  • Kommunizieren Sie offen und gezielt: Teilen Sie Ihre Richtlinien für den Umgang mit Suchterkrankungen mit dem gesamten Unternehmen und ernennen Sie eine qualifizierte Ansprechperson für diejenigen, die Unterstützung benötigen.
  • Bieten Sie als Führungskraft emotionale Unterstützung an und ermutigen Sie Ihre Mitarbeitenden, sich proaktiv die Unterstützung zu suchen, die sie brauchen. Versichern Sie ihnen, dass Sie für sie da sind und ihnen helfen, wo Sie nur können.
  • Erinnern Sie Ihre Mitarbeitenden an die Möglichkeit, Mitarbeitervorteile, die die mentale Gesundheit fördern, in Anspruch zu nehmen (sofern Sie welche haben!) – und das nicht nur einmal, sondern regelmäßig über das Jahr verteilt. 
  • Fördern Sie gesunde Gewohnheiten, indem Sie z.B. zur Selbstreflexion anregen, Workshops zu Substanzgebrauchsstörungen und mentaler Gesundheit anbieten und in eine Plattform wie nilo.health investieren, ein 360°-Paket für das mentale Wohlbefinden am Arbeitsplatz.

Weitere Tipps, wie Sie die mentale Gesundheit am Arbeitsplatz fördern, finden Sie in unserem “Corporate Sanity”-Guide. Dazu gehört auch die Frage, wie Sie Interventionen und Gespräche zur mentalen Gesundheit führen und Mitarbeitende unterstützen, die aus einer Auszeit zurückkehren, die sie aufgrund psychischer Probleme genommen haben.

Wenn wir mit einem Drink anstoßen, wünschen wir uns dabei oft „Gesundheit!“ – und in der Tat ist es genau das, was wir uns gegenseitig wünschen und zu Herzen nehmen sollten. 

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