Chronischer Stress ist ein anhaltendes Gefühl von Stress, welches sich psychisch oder physisch äußert. Aber wann wird Stress zu viel? Wie können wir das erkennen und was können wir dagegen tun?
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Geschrieben von Isabella Fornell, nilo Psychologin
Was ist chronischer Stress?
Chronischer Stress ist ein anhaltendes Stressgefühl, das sich sowohl psychisch als auch physisch bemerkbar machen kann. Er entsteht durch interne Faktoren, wie etwa eigene Gefühle oder Erwartungen, aber auch durch externe Stressoren wie finanzielle Probleme, Lärm oder hohen Druck am Arbeitsplatz. Bleibt er unbehandelt, kann er unsere mentale Gesundheit erheblich beeinträchtigen.
Um das besser zu verdeutlichen, möchte ich ein persönliches Beispiel teilen: Vor Kurzem habe ich meine Tätigkeit als Psychologin in Berlin begonnen. Am Morgen meiner ersten Beratung bemerkte ich, dass ich unbewusst mit den Zähnen knirschte, schwitzte und leicht zitterte. Mein Herz schlug ungewöhnlich schnell, und ich verspürte ein starkes Bedürfnis, mich irgendwie abzulenken. Plötzlich wurde mir klar, dass ich aufgrund der Erwartung meiner ersten Sitzung eine akute Stressreaktion durchlebte.
Das, was ich erlebt habe, wird als Kampf-oder-Flucht-Reaktion bezeichnet. Diese Reaktion ist eine vollkommen natürliche und gesunde Antwort unseres Körpers auf stressige Situationen. Bei Bedrohungen oder Herausforderungen schüttet unser Körper die sogenannten Stresshormone Cortisol und Noradrenalin aus. Ihre Aufgabe ist es, uns einen schnellen Energieschub und erhöhte Wachsamkeit zu verleihen, um die anstehende Situation zu bewältigen.
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Zu wenig Stress = niedrige Motivation und wenig Engagement
Mäßiger Stress = herausgefordert und engagiert
Zu viel Stress = überfordert und beeinträchtigte
Stress in moderatem Ausmaß ist gesund und notwendig!
Zu viel Stress kann unsere Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigen. Das betrifft nicht nur kurzfristige Reaktionen, wie jene, die ich vor meiner ersten Beratung erlebt habe, sondern vor allem langanhaltende Phasen, in denen wir uns unter Druck gesetzt und überfordert fühlen.
Wenn die Kampf-oder-Flucht-Reaktion dauerhaft aktiviert bleibt und unser Körper ständig mit Cortisol und Noradrenalin überschwemmt wird, handelt es sich nicht mehr um eine akute Stressreaktion, sondern um chronischen Stress.
Was verursacht chronischen Stress?
Chronischer Stress hat nicht nur eine einzige Ursache – er entsteht durch ein Zusammenspiel verschiedener Umweltfaktoren, die individuell variieren können. Dazu gehören beispielsweise:
- Überfüllte Städte und tägliche Staus
- Unzufriedenheit oder hoher Druck im Job
- Ständige Konfrontation mit negativen Nachrichten in den Medien oder sozialen Netzwerken
Unsere Wahrnehmung dieser Umweltfaktoren spielt eine entscheidende Rolle bei unserer Stressreaktion. Wenn wir solche Ereignisse als negativ, bedrohlich, unkontrollierbar oder belastend empfinden, wird die Kampf-oder-Flucht-Reaktion ausgelöst. Dies kann langfristig dazu beitragen, dass sich chronischer Stress entwickelt.
Was sind die Symptome von chronischem Stress?
Häufige Symptome von chronischem Stress sind:
- Müdigkeit
- Gedächtnis- und Konzentrationsschwierigkeiten
- Gefühl von Überforderung
- Ungeordnetes Denken
- Schlafprobleme
- Gefühl von Hilflosigkeit
- Reizbarkeit
- Zynismus
- Nervosität
- Schmerzen und Beschwerden
Hält chronischer Stress über längere Zeit an, kann er unsere psychische und körperliche Gesundheit erheblich beeinträchtigen. Er kann beispielsweise den Boden für Depressionen, Angststörungen oder chronische Schmerzen bereiten. Zudem schwächt chronischer Stress das Immunsystem und macht uns anfälliger für Krankheiten.
Die dauerhafte Ausschüttung von Cortisol und Noradrenalin belastet auch das Magen-Darm-System, da sie den Darmtrakt austrocknen und dadurch ein Reizdarmsyndrom begünstigen kann. Darüber hinaus stellt chronischer Stress einen bedeutenden Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen dar.
Wie chronischer Stress behandelt werden kann
Zum Glück gibt es nicht nur schlechte Nachrichten: Es gibt effektive Möglichkeiten, Stress zu bewältigen, seine Chronifizierung zu verhindern und sich von ihm zu erholen.
Wahrnehmung verändern: Stress als Freund betrachten
Es geht nicht darum, den Stress komplett loszuwerden. Wie bereits erwähnt, ist Stress eine normale Reaktion, die uns hilft, unser Bestes zu geben. Entscheidend ist, wie wir Stress wahrnehmen. Es kann hilfreich sein, sich mit dem Stress „anzufreunden“ und ihn als natürlichen Teil unseres Lebens zu akzeptieren.
Wie gelingt das? Beginne damit, dich zu fragen: Nehme ich bestimmte Situationen als Herausforderung oder Bedrohung wahr? Wenn wir Stressoren als Herausforderungen betrachten, fühlen wir uns weniger ängstlich, entspannter und zuversichtlicher.
Ein persönliches Beispiel:
„Mein Studium war sehr wettbewerbsintensiv. Manchmal fiel es mir schwer, mitzuhalten, und ich ertappte mich dabei, wie ich mich mit Kommiliton:innen verglich. Später verstand ich, dass der Wettbewerb gegen mich selbst und nicht gegen andere gerichtet war. Ich beschloss, meinen Erfolg daran zu messen, wer ich geworden war, und meine Herausforderung bestand darin, jeden Tag ein bisschen besser zu werden. Ich hatte die Kontrolle über diese Herausforderung, und es wurde schnell einfacher für mich, meinen Erfolg zu sehen.“
Soziale Bindungen stärken
Forscher:innen des Max-Planck-Instituts in Deutschland haben herausgefunden, dass Oxytocin, auch bekannt als „Kuschelhormon“, uns dabei hilft, schneller von stressigen Ereignissen zu erholen.
Wie kannst du Oxytocin fördern?
- Suche Nähe zu Menschen, die du liebst und die sich um dich kümmern.
- Hilfsbereites Verhalten, wie Teilen, Kooperation, Freiwilligenarbeit oder Unterstützung anderer, kann ebenfalls die Oxytocin-Produktion anregen.
Schon kleine Gesten der Verbundenheit können dir helfen, Stress zu reduzieren und neue Kraft zu schöpfen.
Setze klare Grenzen
Wenn wir von zu viel Stress überwältigt sind, ist es entscheidend, klare Grenzen zu setzen. Oftmals verschwenden wir Zeit und Energie für Dinge, die nicht wirklich wichtig sind. Wenn du dir unsicher bist, wo deine Grenzen liegen, helfen dir die folgenden Fragen weiter:
- Wie verbringe ich meine Zeit?
- Was ist mir wirklich wichtig? Verbringe ich genug Zeit damit?
- Passen meine Aktivitäten zu meinen Werten und Prioritäten?
- Was hat mir in der Vergangenheit geholfen, neue Energie zu tanken?
Indem du deine Prioritäten klar definierst, kannst du bewusst Zeit für das schaffen, was dir wirklich guttut und Stress reduziert.
Schlaf und Ruhe priorisieren
Guter Schlaf ist unerlässlich für Stressbewältigung und Erholung. Laut einer Umfrage der American Psychological Association (APA) von 2019 berichten 47 % der Erwachsenen, dass sie aufgrund von Stress schlecht schlafen.
Tipps für besseren Schlaf:
- Entwickle eine Schlafroutine, die zu dir passt.
- Schalte eine Stunde vor dem Schlafengehen bewusst ab.
- Vermeide stimulierende Bildschirmzeit in dieser Zeit.
- Entspanne dich durch Atemübungen, ein warmes Bad, Musik oder einen beruhigenden Podcast.
So gibst du deinem Körper das Signal, dass es Zeit ist, zur Ruhe zu kommen und Kraft zu tanken.
Hilfe annehmen – Du bist nicht allein
Wenn du dich in einem Zustand von chronischem Stress befindest, solltest du wissen: Du bist nicht allein. Die Erholung von chronischem Stress hängt von vielen individuellen Faktoren ab, darunter auch deiner Lebensweise.
Manchmal brauchen wir zusätzliche Unterstützung, um wirklich zur Ruhe zu kommen. Zögere nicht, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ein:e Coach, Psycholog:in oder Therapeut:in kann dir helfen, neue Strategien zu entwickeln und gestärkt aus dieser Phase herauszugehen.
Es könnte der perfekte Zeitpunkt sein, an dich selbst zu arbeiten und dein Wohlbefinden langfristig zu sichern!